Gewalt entziffern: Das bin doch nicht ich
Warum verlässt eine bürgerlich-mittelständische Frau mit allen Freiheiten ihren Mann nicht, der immer wieder gewalttätig wird? Das ist das zentrale Thema des Buches „Schattenfangen“ und die US-amerikanische Autorin gibt eine interessante Antwort darauf. Von Christiane Geldmacher.
Irene America und Gil LaRose, beide US-Amerikaner mit indianischen Wurzeln, führen ein wohlhabend-bürgerliches Leben. Gil ist ein bekannter Maler (er gilt in Fachkreisen als der indianische Edward Hopper), Irene ist Kunsthistorikerin. Die beiden haben kluge, außergewöhnlich begabte Kinder, der ältere Sohn Florian will Physiker werden, seine Schwester Riel bildet sich, ganz neoindianisch, zur Mandankämpferin aus. Um die zerrüttete Familie zu retten. Denn die Eltern sind beide Trinker und in einer Hassliebe gefangen. (In einer wunderbaren Szene werden diese beiden Teenager später – leicht suizidal – auf dem Dach sitzen, einen Joint rauchen, eine Flasche Rotwein trinken und sich fragen, welches physikalische Teilchen sie sind: Ein unbewiesenes Teilchen, ein W-Boson oder ein WIMP? Ein WIMP ist ein massereiches Teilchen mit schwacher Wechselwirkung und sie finden, dass ihre Mutter ein WIMP ist, weil sie sich alles von Gil gefallen lässt.)
Irene entdeckt, dass ihr Mann Gil heimlich ihr Tagebuch liest. Also fängt sie ein zweites an und versteckt es im Schließfach einer Bank. Das alte führt sie weiter und füllt es mit Sätzen wie „Ich verliere noch mal den Verstand wegen dieser Geschichte“, die ihren Mann in eifersüchtige Raserei versetzen. Immer weiter treibt sie dieses Spiel, sie wird hundsgemein dabei, und man fragt sich warum. Sie riskiert alles, sie ist eine starke Frau.
Undurchsichtige Machtverhältnisse
Alles in diesem Buch ist vieldeutig. Denn es ist der cholerische Vater Gil, der diese Familie, ein Nest von Hochbegabten, zusammenhält. Er sorgt dafür, dass die Kinder was Gescheites zu essen haben. Dass sie in der Schule nicht absacken. Dass das Haus nicht im Chaos versinkt. Irene stapelt überall Bücherberge hoch, sie liest die Bücher nie fertig, sie schreibt nur Zitate heraus für ihre Dissertation. Sie will seit Jahren über George Catlin promovieren, einen Maler, der im 19. Jahrhundert quasi-ethnologisch die amerikanischen Indianer porträtiert hat. Problem ihrer Dissertation Nummer 1: Irene hat erst sechs Seiten. Problem Nummer 2: Gil kann den mediokren Maler nicht ausstehen und macht ihn schlecht.
Weiterer Zündstoff in der Ehe ist Gils Bilderzyklus, den er sinnigerweise „America 1-70“ genannt hat und der immer nur seine Frau abbildet. Er idealisiert sie, pornografisiert sie, demütigt sie. Er behauptet, dass das sein politischer Kommentar zur Situation der Indianer in den USA ist. Irene hält das für scheinheilig. Meistens schaut sie sich die Bilder gar nicht an. Und wenn doch, erkennt sie sich nicht wieder.
Scheinheilig findet sie ihn auch, wenn sie über „Privatheit“ diskutieren. Ihr geht es um ihre Tagebücher, ihm um die Schnüffelei der US-amerikanischen Heimatschutzbehörde nach dem elften September.
Ausgereifte Erzähltechnik
Louise Erdrichs Buch ist perspektivisch vielschichtig erzählt. Erzählebene 1 ist Irene (in ihren beiden Tagebüchern), Erzählebene 2 ist Gil, Erzählebene 3 ist die Tochter Riel und Erzählebene 4 ein auktorialer Erzähler, der sich am Ende als nicht ganz so auktorial herausstellt wie vermutet. Das ist hochartistisch gemacht, ohne billige Effekte, ohne reißerische Interessantmacherei. Erdrich hat eine eigene (Bilder-)sprache, brillante Dialoge und eine Fülle kontroverser Diskurse, die so intelligent präsentiert werden, dass man ihnen sogar hinterher googelt.
Erdrich nimmt ihre Figuren ernst und lässt ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Besonders gelingt ihr das Porträt der Tochter Riel, deren Hingabe und Witz den Leser fesselt. Zu Anfang der Story ist die Tochter noch ganz auf der Seite der Mutter, später wird sie sich dem Vater zuwenden. Über ihren Vater wird Riel schreiben: „Er ist so einer, der malen kann, der kochen kann, der ein Haar durch 36 Blatt Papier ertasten kann.“ Kein schlechtes Kompliment von einer Tochter.
Schlussendlich wird sie es sein, die ihren verwirrten, radikalen und kunstbesessenen Eltern ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
„Schattenfangen“: Das ist ein Buch, das da weiter denkt, wo andere aufhören. Es ist spannend und unterhaltsam, voller erzählerischer Detailfreude, Situationswitz und Tragik. Rasend gut!
Christiane Geldmacher
Louise Erdrich: Schattenfangen (Shadow Tag, 2010). Deutsch von Chris Hirte. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag 2011. 240 Seiten. 17,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und Leseprobe. Wikipedia über Louise Erdrich.