Du hast gesagt, ich schriebe Briefe von unpersönlicher Gefühlskälte.

Nun, vielleicht ist es schwierig, dies nicht zu tun in einem Land, wo direkt vor deinem Fenster zwei felsige Gipfel von unnachgiebiger Majestät emporragen und wo ein Amphitheater von Bergen deinen Horizont und deine Schritte einschließt. Heute stieg ich hinauf zum ewigen Schnee und fand dort leuchtendgelbe Mohnblumen, die gleichermaßen dem Gletscher wie dem Sturm trotzen; und schämte mich vor ihrem Mut. Außerdem wird behauptet, Insekten hätten diese Gipfel hervorgebracht, Ablagerung auf Ablagerung; aber wenn du diese Gipfel sehen könntest, würdest du es wenig glaubhaft finden, dass irgendein Insekt, ganz gleich wie arbeitsam, die Zeit gefunden hätte, so weit hinauf zum Himmel zu klettern. Als Folge, verstehst du, wird man dazu gebracht, sich ganz unpersönlich und unbedeutend zu fühlen. Ich kann dir nicht sagen, wie viele dolomitische Meilen und Steigungen ich bis jetzt schon in meinen Beinen habe. Ich habe das Gefühl, als ob sich die reine physische Energie und das Wohlbefinden den ganzen Intellekt einverleibt hätten. So sollte man sich fühlen, davon bin ich überzeugt.
Vita Sackville-West an Virginia Woolf, 16. Juli 1924

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