Lese den zweiten Teil der Fritz J.Raddatz-Tagebücher. Wie er zuhause auf Sylt in Unkenntnis/in einem Wutanfall die Tür aufreißt und halloweenende Kinder hysterisch anschreit, und sich dann aus Kummer darüber betrinkt; wie er keinen Dank für Laudationen erhält; wie ein Autor keine Espressomaschine hat; wie ein Autor kein schönes Essgeschirr hat; wie die Soßen in Paris wie die in Schlesien auf dem Bauernhof sind; wie er keine Lust hat, bei Autoren mitzuplotten, denen nichts einfällt; wie er auf einer Party eines Autors die Fotos eines 8 Tage alten Babys ausgiebig bewundern muss; wie vom Nouvel Observateur 2002 die Anfrage kommt, ob es zu seinem Tucholsky-Essay Zeitzeugen gäbe (die das Jahr 1924 beträfen); seine Angst, zu lang zu leben (falls das Geld nicht reicht); seine Angst, zu kurz zu leben (weils doch eigentlich schön ist); sein Leiden an dem Balzac´schen Satz „aus den Locken seiner blonden Perücke sprach Menschenliebe“; die eineinhalb-stündige Grass-Gedichte-Lesung („Man darf über alles reden, aber nicht mehr als eine Stunde“); die drei Mal hintereinander erzählten, uralten Geschichten; der Vorwurf seiner Lektorin, er liebe sein kognitives Selbst nicht (er weiß nicht, was das ist); die Lebenserinnerungen der anderen als ein „Mensch ärgere dich“; die Schar der Freunde, die sich alle nichts zu sagen haben; die Pseudoanrufe; die keinen Anrufe usw. usf.: Ja, da schleppt und quält sich einer unermüdlich durch den Literaturbetrieb seiner Generation:
„Schriftsteller sehen nichts, kein Blick auf ein Bild, eine Skulptur, keine Fragen „Was ist das für ein Mosaik?“ oder ein „Dieser antike Kopf, den du da eingemauert hast …“ Nix davon. Sich hinsetzen und reden.“
Aber das Gute am Kritiker Raddatz ist: Die Idioten sind nicht immer nur die Anderen. Und deswegen kann man sich hier prächtig mit ihm amüsieren. Raddatz ist bei aller Verzweiflung und Melancholie auch immer sehr komisch und obendrein immer ein höchst genauer Beobachter. Ob er dabei nun die Berühmtheiten des Literaturbetriebs beschreibt oder nicht, ist dabei fast egal. Mir jedenfalls. Sie haben bleibenden Wert.
Fritz J. Raddatz: Tagebücher 2002-2012
Rowohlt 2014
720 Seiten
Hardcover, 24,95 Euro
>>>Larry David und Halloween in Curb your enthusiasm