Zum Beispiel: Fenster zum Hof. In den Hauptrollen James Stewart und Grace Kelly. Bester Nebendarsteller: Raymond Burr.
Die Story: Ein Fotograf hat sich ein Bein gebrochen, er ist Reporterfotograf. An seiner Wand hängt ein Foto mit einer Verhaftungsszene – ein Mann kniet auf dem Boden, ein anderer zielt mit einem Gewehr auf ihn. Damit fängt es schon an. Wer würde sich eine solche Magnum-Robert-Capa-Reporter-Aufnahme, Fotografenkoryphäe hin oder her, ins Wohnzimmer hängen? Und welche Grace Kelly würde sie nicht sofort mit den Worten „Bei allem Respekt vor deinem gefährlichen Beruf …“ abnehmen und in den Keller verschrotten?
Nun denn. Der Fotograf, in Gips, setzt sich ans Fenster und vertreibt sich den Tag mit dem in den Hof schauen. Fair enough – merkwürdigerweise ist er aber der Einzige unter den geschätzt 80 Nachbarn, der das tut. Nicht sehr realistisch, aber das erfordert die Dramaturgie: Würden die anderen auch gucken, gäbe es keine Morde, Mordversuche und Selbstmordversuche im Carree.
Der Rest der nachbarlichen Truppe interessiert sich also manieriert nicht für die anderen. Mit bloßem Auge kann der Fotograf die junge Nachbarin gegenüber erkennen, die am Fenster Gymnastikübungen macht; den jungen Musiker, der am Piano in die Tasten haut; das junge Paar, das rechts neu eingezogen ist und in bester Jane-Fonda-und-Robert-Redeford-Manier-Barfuß-im Park-Ma nier (ein herrlicher Film) ziemlich viel Sex hat. Die Nachbarn im obersten Stock lassen jeden Morgen im Körbchen ihr Hündchen auf den Hof runter (das ist reizend), eine Frau sonnenbadet jeden Tag im Liegestuhl (das ist freizügig) und eine andere leidet unter Edward-Hopperianischer-Einsamkeit (das ist traurig).
Der Fotograf, wenn er mal nicht die Leute spannt, unterhält sich unterdessen mit Freundin Grace Kelly über Freiheit und meint damit wohl die persönliche als auch die politische. Das ist ein fruchtbarer Diskurs, wir folgen ihm gern, auch wenn er stellenweise zu lang gerät. Aber historisch betrachtet beeindruckend.
Immer idiotischer wird die Kriminalstory. Nochmal: Jeder kann jedem in dem Carree bloßen Auges in die Wohnung sehen. Und so entsorgt Raymond Burr seine nervige Frau eines Tages vor aller Augen in Tüten. Und in einem riesigen Koffer. Einen kleinen Teil von ihr hat er offenbar auch im Hof-Garten vergraben und das Hündchen gräbt dauernd die Erde auf. Dem Hündchen wird das Genick gebrochen. Grace Kelly, Typ erfolgreiche, schön angezogene Karrierefrau, wird versuchen, zusammen mit der Pflegekraft des eingegipsten Fotografen das Leichenteil zutage zu fördern, erfolglos. Mirakelöser Weise übrigens völlig unbeobachtet.
Weiter. Unbeobachtet von den 80 anzunehmenden Nachbarn steigt sie über die Feuerleiter in die Wohnung des Mörders ein, der kommt – natürlich – zu früh zurück, sie gerät in einen tödlichen Kampf – unbeobachtet von 80 Nachbarn, außer dem eingegipsten Fotografen und der Pflegekraft, die aus irrsinnigen Gründen zurück in der Wohnung ist, obwohl es ihre verdammte Pflicht wäre, für Grace Kelly im Hof/Garten/Treppenhaus Schmiere zu stehen. Stattdessen stößt sie lieber untätig mit dem Fotografen spitze Schreie aus.
Grace Kelly wird zwar gerettet, aber – to cut things short – es kommt dennoch zum Showdown zwischen dem Mörder und dem Fotografen. Zeit für Hitchcocks Lichteffekte: Der Mörder gelangt unbeobachtet vor die Wohnung des Fotografen und – natürlich – ist sie nicht abgeschlossen. Und – natürlich – sitzt der in diesem Moment hilflos am Fenster, obwohl er vorher ständig mit seinem Detektivfreund telefoniert hat. Der Fotograf versucht, den Aggressor durch eine Art altmodisches „die Zielperson durch Blendgranaten desorientieren“ aufzuhalten (er blitzt ihn ein paar Mal ins Gesicht, was nicht nur albern wirkt, sondern auch sehr kurzzeitige Effekte hat). Es kommt zum unbeobachteten Kampf zwischen den Titanen unter den 80 anzunehmenden Nachbarn und der Fotograf hängt schließlich zappelnd zum Fenster heraus.
Warum eigentlich?, so fragt man sich. Warum versucht ein Mörder, einen Zeugen loszuwerden, indem er ihn weithin sichtbar im Carree aus dem Fenster baumeln lässt?
Das Ende vom Lied: Der Fotograf wird gerettet, weil plötzlich doch alles im Hof herumwimmeln.
Und spaßig: Jetzt hat er zwei gebrochene Beine.
Gruselfaktor: Null.
Schade, dabei mochte ich den Film früher mal so. Ich glaube, „Über den Dächern von Nizza“, gedreht im ungefähr gleichen Zeitraum, ist besser.
Das Buch hat übrigens Cornell Woolrich geschrieben, das >>>Diogenes so schön in seiner Backlist pflegt.