(Diese Rezension erschien zuerst am 15. Oktober 2011 in CrimeMag)
Endliche Ressourcen
„Unter den Bergen von Akten und Anträgen war unmöglich zu erkennen, wo ein Schreibtisch endete und der andere begann.“
Unsere Gesellschaft delegiert Probleme mit schwierigen, prekär aufwachsenden Jugendlichen gern an den Staat: an Fallbetreuer, Sozialarbeiter, Lehrer. Doch selbst die Besten unter ihnen scheitern, weil die Ressourcen endlich sind. Von ihnen handelt der kenntnisreiche, psychologisch engmaschige Kriminalroman „Die Farbe der Leere“ von Cynthia Webb. Von Christiane Geldmacher.
Katherine McDonald ist Behördenanwältin bei der Administration for Children’s Services ACS, der New Yorker Jugendschutzbehörde. Sobald in Familien ein Verdacht auf Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung von Kindern oder Jugendlichen entsteht, ordnet sie Pflegschaften oder Heimunterbringung an. Immer wieder jedoch rutschen Kinder und Jugendliche unter ihrer Aufmerksamkeit durch. Besonders die, die sich unauffällig verhalten.
In der Bronx wird die verstümmelte Leiche eines Jungen gefunden. Die beiden Ermittlungsbeamten Stephen Russo und Patricia Malone wünschten, sie könnten behaupten, noch nie eine solche Leiche gesehen zu haben; tatsächlich ist es ist erst vier Wochen her, dass sie vor einem Jungen standen, der genau nach dem gleichen Muster – erst vergewaltigt, dann verstümmelt – umgebracht worden war.
Jugendliche hängen von der Tagesform ihrer Betreuer ab
Die Ermittlungen Russos und Malones stagnieren. Nach ein paar Wochen wird ein dritter Junge, Jonathan Thomson, aufgefunden. Die Staatsanwaltschaft nimmt Kontakt mit der Behördenanwältin Katherine McDonald auf, die für Jonathan zuständig war. Es stellt sich heraus, dass Katherine den Jungen monatelang nicht gesehen hat. Ein paar Besuche sind ausgefallen, dringendere Fälle waren in ihr Blickfeld gerückt und Jonathan tauchte ab. Katherine fühlt sich schuldig, ihrer Vorgesetzten erklärt sie: „Sieh mal, ich hab mich seiner angenommen, wie man sich einem Projekt verpflichtet oder so, und dann habe ich ihn hängenlassen. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich war wütend auf ihn, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und er wusste, dass ich von ihm enttäuscht war. Ich hab ihn fallenlassen.“
Cynthia Webbs Verdienst ist es, diese Schuld weder zu beschönigen noch wegzudiskutieren. So ist es eben: Wie gut die Jugendlichen betreut werden, hängt von der Tagesform der Verantwortlichen ab. Die ist mal besser, mal schlechter. Im Augenblick schlechter. Katherine hat sich von ihrem Mann getrennt und sitzt schon seit Wochen ohne Plan in einer neuen Wohnung auf Umzugskisten.
Ein Junge aus der Nachbarschaft versucht, der den Gay-Pride-Sticker an ihrem Auto entdeckt hat, versucht, sich ihr anzuschließen. Er weiß nicht, wie er seinen konservativen Eltern seine Homosexualität beibringen soll. Es ist einer dieser ironischen Momente des Buchs: Katherine hat das Auto Second hand gekauft – sie wird später mit dem Staatsanwalt Dan Mendrinos im Bett landen.
Viele wahre Momente
Auch bei Brian, dem Jungen aus der Nachbarschaft, wird Katherine scheitern. Quasi noch während sie sich über das Scheitern bei Jonathan in Grund und Boden ärgert. Sie gibt ihm oberflächliche Antworten, sie schickt ihn weg. Und es zählt zu den Stärken dieses Buchs, dass diese Sache nicht gut ausgehen wird.
Andere auch nicht. Katherine gelingt es am Ende, nur einen dieser Jungen zu retten, die der Täter auf seiner Liste hat. Andere würden vielleicht sagen: Immerhin einer. Je nach Tagesform eben.
Gelungen sind vor allem die vielen „wahren Momente“ des Buchs: Zum Beispiel die Schilderung des Ermittlers Stephen Russo, der einen Adrenalinkick bekommt, wenn er eine neue Leiche hat, egal welche. Seine Frau Rosemarie, die erleichtert ist, dass die jugendlichen Opfer Schwarze und Latinos sind, ihr Sohn also nicht ins Beuteschema passt. Die Fallbetreuerin, die sich damit zufrieden gibt, bei einem Besuch die Handschellen zu beschlagnahmen, mit denen Eltern ihr Kind an die Heizung fesseln. Der Witz der ASC-Kolleginnen darüber untereinander: „Das nächste Mal trifft sie auf ein Kind mit Zigarettenverbrennungen und beschlagnahmt die Kippen.“
Perspektivisch interessant und facettenreich erzählt – auch der Täter kommt noch zu Wort – ist „Die Farbe der Leere“ ein Buch mit echten Gefühlen. Keinen angelesenen, keine dem Plot geschuldeten. Cynthia Webb war selbst ASC-Anwältin, heute ist sie Staatsanwältin. Sie weiß, wovon sie redet. Sie hat darüber nachgedacht. Mit dem aufreizend alltäglichen Schluss lässt sie keinen Zweifel daran, dass das Scheitern ihrer Protagonistin unser aller Scheitern ist. Einer der wichtigsten Krimis dieses Jahres!
Christiane Geldmacher
Cynthia Webb: Die Farbe der Leere (The colour of emptiness, April 2004). Deutsch von B. Szelinski & Else Laudan. Hamburg: Argument Verlag 2011 (Ariadne Krimi 1187). 12,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.